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CN: SUIZID/GEWALT/MORD/TRANS*FEINDLICHKEIT/RASSISMUS/FEMIZID/MISOGYNIE/SUIZID BEI KINDERN UND JUGENDLICHEN/GEWALT GEGEN KINDER UND JUGENDLICHE
Am 20. November ist Trans* day of Remembrance. An diesem Tag kommen weltweit Menschen zusammen, um den, im Laufe des letzten Jahres getöteten trans* Menschen zu gedenken. Diesem Gedenken wollen auch wir hier in Jena uns heute alle zusammen anschließen.
Wir schließen uns damit einem Gedenken an, dass bereits vor 24 Jahren am 20. November 1999 das erste Mal stattfand. Damals war es die us-amerikanische trans* Aktivistin Gwendolyn Ann Smith, die nach der Ermordung ihrer Freundin, Rita Hesters, im November 1998, nicht mehr hinnehmen wollte, dass kaum über ermordete trans* Menschen berichtet wird, viele Morde und Hassverbrechen an trans* Menschen darüber hinaus nicht aufgeklärt werden und – wie Gwendolyn überrascht feststellte – auch innerhalb der trans*Community selbst, die getöteten trans* Personen schnell in Vergessenheit gerieten, selbst wenn die Umstände ihres Todes sich immer wieder sehr ähnelten. Um das zu ändern, rief Gwendolyn das Internetprojekt „Remembering our Dead“ ins Leben und fing an Morde an trans*Menschen seit den 1970er Jahren systematisch zu dokumentieren. Ein Jahr später organisierte sie dann zusammen mit Freund*innen am 20. November das erste Gedenken zum Trans* day of Remembrance.
Gwendolyn Ann Smith schreibt dazu selbst:
„Mit dem Transgender Day of Remembrance wollen wir die Verluste in den Mittelpunkt stellen, die wir aufgrund von trans*feindlichem Fanatismus und trans*feindlicher Gewalt erleiden mussten. Die Notwendigkeit, dass wir für unsere Rechte kämpfen müssen, ist mir nicht fremd, und das Recht, einfach nur zu Existieren, steht dabei an erster und wichtigster Stelle. Angesichts der Tatsache, dass es so viele Menschen gibt, die es sich zum Ziel gemacht haben trans*Menschen auszulöschen – manchmal auf die brutalste Art und Weise, die man sich nur vorstellen kann – ist es von entscheidender Bedeutung, dass derer, die wir verloren haben gedacht wird und dass wir nicht aufhören für Gerechtigkeit zu kämpfen.“
Üblicherweise wird im Rahmen des Trans* day of Remembrance deswegen eine Liste mit den Namen all jener unserer trans* Geschwister, die seit dem letzten Jahr aufgrund von trans*feindlichen Hassverbrechen oder durch Suizid ermordet und getöten wurden, verlesen. Wie wir bereits gehört haben wissen wir von mindestens 392 Menschen, die seit dem 01. Oktober 2022 zu dieser Liste dokumentierter Todesfälle hinzugefügt wurden.
Wobei die dokumentierten Fälle dabei nur die traurige Spitze eines Eisbergs sind, die nicht ansatzweise an die hohe Dunkelziffer heranreichen dürfte. Denn Gewaltverbrechen und Morde an trans*, inter, non-binären, agender, genderqueeren und anderen gender-nonkonformen Menschen werden bisher meist gar nicht als solche registriert und auch offizielle Statistiken zu Hassverbrechen und Morden an trans*Menschen gibt es in den meisten Ländern nicht. Oft wird darüber hinaus auch nach dem Tod der Betroffenen weiterhin deren Deadname verwendet, wodurch ihre Identität, ihre Geschlechtszugehörigkeit und die Hintergründe ihres Todes quasi doppelt verschleiert, unsichtbar gemacht und ihr Andenken mit Füßen getreten wird. Um so wichtiger ist es, dass von der trans* Community selbst versucht wird, jedes Jahr aufs Neue, so viele Tode wie möglich zu dokumentieren und sichtbar zu machen.
Doch bereits diese fast 400 dokumentierten Namen des letzten Jahres alle vorzulesen würde sehr lange dauern und würde dem Gedenken an jede einzelne Person in meinen Augen nicht wirklich gerecht werden, weswegen ich mich dagegen entschieden habe das hier nun zu tun. Aber wie sonst gedenkt man einer so großen Zahl an Menschen mit Würde und Respekt? Oder wie wählt man aus dieser großen Zahl an Opfern einzelne aus, um ihnen ein Gesicht zu geben, ihre individuelle Geschichte hier zu erzählen und sie so nicht in Vergessenheit geraten zu lassen? Schließlich steht hinter jedem Namen, hinter jeder Zahl ein individuelles Schicksal, ein einzigartiges Menschenleben, was in den letzten Monaten auf traurige, oft grausame Weise ein Ende fand.
Ich habe sie alle gelesen, die Geschichten, habe geweint, habe mir ihre Bilder angesehen, bis die Wut in mir aufstieg, habe um sie getrauert und immer wieder versucht eine Auswahl für diesen Redebeitrag festzulegen. Diese Aufgabe war unglaublich schwer. Dennoch denke ich, dass es wichtig ist, von ihren individuellen Leben zu erzählen.
Leben, wie dem der 23-jährigen Studentin Eden Knight. Eden wurde am 08. März 2000 geboren und starb am 12. März 2023, nur vier Tage nach ihrem 23. Geburtstag, in Ryiadh, Saudi-Arabien an Suizid. Aufgewachsen in Saudi Arabien zog Eden zum Studium in die USA. Dort lebte sie seit 2022 offen als trans* Frau und begann – Berichten ihres sozialen Umfeldes zufolge, voller überwältigender Freude endlich sie selbst sein zu können – mit einer Hormontherapie. Ein paar Monate vor ihrem Tod wurde sie jedoch im Auftrag ihrer Familie von ihrem us-amerikanischen Support-Netzwerk getrennt und bewusst isoliert, sie wurde dazu genötigt nach Saudi-Arabien zurückzukehren und dort zu einer Detransition und einer Konversionstherapie gezwungen. Unter anderem beschlagnahmten ihre Eltern immer wieder ihre, für die Transition notwendigen Hormontherapie-Präperate, was Eden letztendlich in den Suizid trieb. In einer ihrer letzten Social-Media Posts schrieb sie: „Ich hoffe, dass die Welt ein besserer Ort für uns wird. Ich hoffe, dass unsere Leute alt werden. Ich hoffe, dass wir unsere Kinder aufwachsen sehen, damit sie für uns kämpfen. Ich hoffe um die Rechte von trans* Menschen weltweit.“
Leben, wie dem der 35-jährigen Violeta Navarrete aus San Miguel in Mexico. Violeta
widmete sich hingebungsvoll allem was mit Schönheit zu tun hatte, gab Tanzkurse für Kinder und Zumba-Kurse für Frauen und ältere Menschen. In der LGBTQ-Community von San Miguel war sie ein von vielen geliebtes und geschätztes Mitglied. Sicherlich auch ein Grund dafür, warum Violeta am 24. Februar 2023, fünf Tage vor ihrer Ermordung, bei der Eröffnungsrede der lokalen Karneval-Feierlichkeiten zur „Queen of Diversity“ also übersetzt zur „Königin der Vielfalt“ gekürt wurde. Freund*innen von Violeta berichteten, dass sie in den darauffolgenden Tagen unaufhörlich zum Ziel von Aggressionen und Hass wurde. So wurde nicht nur ihr Karnevalswagen zerstört, sondern sie wurde auch auf der Straße verprügelt, bevor sie letzendlich am 01.März 2023 gewaltsam ermordert in ihrer Wohnung aufgefunden wurde. Von ihrem Mörder fehlt bis heute jede Spur.
Leben, wie denen der jüngsten Betroffenen auf der Liste, Leben wie das von Ivan, 12 Jahre alt aus Spanien, Onyx 13 und Noah 14 Jahre alt, beide aus Australien, Molly und Kalle, beide 14 Jahre alt aus Schweden, eines 15-jährigen trans* Jugendlichen aus Vietnam, dessen Namen wir nicht einmal kennen, des 15-jährigen Finn aus Großbritannien, Levi und Myles beide 17 Jahre alt aus den USA und vielen weiteren trans*, inter und non-binären Kindern und Jugendlichen weltweit. Ivan, Onyx, Noah, Molly, Kalle, der Junge aus Vietnam, Finn, Levi, Myles – sie alle starben an Suizid, weil sie aufgrund ihres Geschlechts in der Schule gedemütigt wurden, weil sie sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren, weil sie monatelang auf dringend benötigte psychiologische und medizinische Hilfe warteten und diese nicht bekamen, weil sie vom Gesundheitssystem falsch diagnostiziert, falsch behandelt oder nicht ernst genommen wurden, weil sie gegen ihren Willen in Jugendhilfe-Einrichtungen des falschen Geschlechts gesteckt wurden, weil ihre Familie sie ablehnte und schikanierte, anstatt sie zu unterstützen, weil ihre Not nicht rechtzeitig erkannt wurde, weil sie durch alle Raster sozialer Hilfesysteme fielen und von diesen im Stich gelassen wurden oder weil sie gegen ihren Willen Tag für Tag verzweifelt einer beginnenden Pubertät zusehen mussten, die sich unaufhaltsam immer mehr gegen sie wendete.
Leben, wie denen von Mahnoor und Aaiyza aus Pakistan, das von Ome (16 Jahre alt), LaKendra und Imanitwitaho (beide 26 Jahre alt) und Kelly (40 Jahre alt), alle aus den USA, das der 64-jährigen Sandra aus Spanien und des 27-jährigen Juraj aus der Slowakei, das einer trans*Frau aus Uganda, deren Name leider nicht bekannt ist, das der 25-jährigen Neelu und der 50-jährigen Lichi aus Indien oder das von Anna (19), Samara (31), Claudia (52) und Natasha, alle aus Brasilien. Mahnoor, Aaiyza, Ome, LaKendra, Imanitwitaho, Kelly, Sandra, Juraj, die unbekannte trans* Frau aus Uganda, Neelu, Lichi, Anna, Samara, Claudia und Natascha, sie alle starben, erschossen, erstochen, erwürgt oder auf andere brutale Weise ermordet. Sie starben, weil sie von ihren Ex-Partnern, Vätern, Nachbarn oder völlig Fremden auf der Straße getötet wurden. Sie starben an ihren Verletzungen nach trans*feindlichen Angriffen und Hassverbrechen in ihren Wohnungen, in queeren Bars, im Gefängnis, durch die Polizei oder während ihrer Arbeit als Sexarbeiter*innen. Sie wurden ermordet bei trans* und queerfeindlichen Attentaten wie dem in Bratislava im Oktober 2022 oder dem in Colorado Springs in den USA, was sich traurigerweise genau heute zum ersten Mal jährt.
Lasst uns alle diese Leben nicht vergessen! Egal was auf ihren Grabsteinen oder in den Polizeistatistiken steht, wir kennen ihre richtigen Namen und Identitäten und auch die, von denen wir nicht einmal die Namen kennen sind nicht vergessen.
Und wir lassen, dadurch dass wir heute hier alle gemeinsam zusammengekommen sind, nicht zu, dass die widrigen, oft zutiefst von Hass erfüllten und durch strukturelle Diskriminierung geschürten Umstände ihres Todes unkommentiert bleiben.
Um all den genannten Menschen angemessen zu gedenken, sind wir heute hier. Und um auch all die anderen getöteten trans*Menschen, dokumentiert oder nicht, in dieses Gedenken einzuschließen, wollen wir nun eine Schweigeminute einlegen.
– Schweigeminute –
Wir stehen heute hier um zu gedenken. Aber wir stehen heute auch hier, damit wir irgendwann nicht mehr am 20. November zusammenkommen müssen um zu trauern, weil Menschen aus Trans* und Queerfeindlichkeit andere Menschen ermorden. Wir stehen heute auch hier, mit und für unsere lebenden trans*Geschwister, hier in Jena und weltweit. Denn Erinnern heißt verändern und den Toten zu gedenken heißt auch für die Lebenden zu kämpfen und sie auch an allen 364 anderen Tagen des Jahres nicht im Stich zu lassen.
Gerne möchte ich dazu noch einmal Gwendolyn Ann Smith zitieren, wenn sie schreibt:
„Der Transgender day of Remembrance ist weder ein Event für Spendensammlungen noch ein Event für einen Bierausschank. Es ist kein Ereignis, dass wir ‚feiern‘. Es ist keine schnelle und einfache Möglichkeit für Organisationen, sich an diesem Tag dafür auf die Schulter klopfen zu lassen, dass sie die trans*Community unterstützen. Es ist nicht etwas, dass man am 20. November mal eben auf die Beine stellt und dann sofort wieder vergisst. Stattdessen sollten wir jeden Tag für uns alle kämpfen, egal ob lebend oder tot.“