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Redebeitrag zum BSG-Urteil vom 19. Oktober

— english below or here
Der folgende Text besteht zu großem Teil aus einer Pressemitteilung zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 19.10.2023 über die Kostenerstattung von Mastektomien für nicht-binäre Personen.  Die Pressemitteilung ist von der klagenden Person, deren Anwält*innen und der TIN-Rechtshilfe. 
Wir haben uns entschieden anhand dieser Pressemitteilung einen Redebeitrag zu verfassen, um dem Thema einen Raum zu geben. Und um darauf aufmerksam zu machen, wie prekär und verbesserungswürdig die transitionsspezifische Gesundheitsversorgung für trans* und/oder nicht binäre Personen ist und inwieweit Krankenkassen dazu beitragen, dass Menschen unter Dysphorie leiden müssen. 
Wir müssen uns nichts vormachen, auch vor dem Urteil war es für trans* und/oder nicht-binäre Personen keine Selbstverständlichkeit, dass die Kosten für Dysphorie lindernde Operationen oder andere Maßnahmen von gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Besonders nicht binäre Personen finden sich häufig an dem Punkt wieder, sich als binär trans* ausgeben zu müssen, um auch nur den Zugang zu Ärzt*innen zu finden, die gewünschte/gebrauchte Operationen durchführen. 
Und dann bleibt die Frage, ob eben diese hochstelligen Kosten für die Operationen von Krankenkassen übernommen werden.
Für uns ist klar, Transitionen und geschlechtsangleichende Maßnahmen sind kein Luxus, sondern eine zwingende Grundlage für die psychische Gesundheit vieler trans* und/oder nicht binären Menschen.
Was hat es also mit dem Gerichtsurteil von Oktober auf sich?
Das Bundessozialgericht in Kassel hat am 19.10.23 über die Ablehnung der Kostenübernahme für eine geschlechtsangleichende Operation bei einer nicht-binären Person durch die gesetzliche Krankenkasse geurteilt. Das Gericht hat entschieden, dass die Krankenkasse derzeit nicht verpflichtet ist, geschlechtsangleichende Maßnahmen für nicht-binäre Personen zu zahlen. Robin Nobicht hatte gemeinsam mit den Rechtsanwält*innen Katrin Niedenthal und Friederike Boll gegen die Techniker Krankenkasse geklagt. Nobicht ist nicht-binär, identifiziert sich also weder als Frau noch als Mann. Für die Krankenkasse war dies Anlass, die Kostenübernahme für eine geschlechtsangleichende Mastektomie – die operative Entfernung der Brüste – zu verweigern. Dadurch musste Nobicht die hohen Kosten für die notwendige Operation selbst tragen.
In erster Instanz hatte 2021 das Sozialgericht Mannheim Nobicht in der Sache recht gegeben und – wie auch andere Sozialgerichte in Deutschland in Fällen nicht-binärer Krankenversicherter – die Krankenkasse zur Kostenübernahme verurteilt.
Dagegen hatte die Krankenkasse Berufung eingelegt, das Landessozialgericht Baden-Württemberg 2022 hatte in zweiter Instanz dann zu Gunsten der Krankenkasse entschieden.
Das Bundessozialgericht (kurz BSG) hat zwar die vorinstanzlich genannten Ablehnungsgründe für nicht zutreffend befunden und räumte in der mündlichen Urteilsbegründung ein, dass nicht-binäre Personen denselben Anspruch auf Behandlungen haben können wie auch binäre trans* Personen. Das BSG lehnte den konkreten Anspruch von Nobicht aber deshalb ab, da vom Gemeinsamen Bundesausschuss (kurz GBA) noch nicht geklärt worden sei, wie Geschlechtsdysphorie zu behandeln ist.
Das BSG bezieht sich dabei nicht konkret auf einzelne Operationsmethoden, sondern auf die Diagnose- und Indikationsstellung. Es hat in seiner Urteilsbegründung die „partizipative“ – also gemeinsame – Entscheidungsfindung zwischen Betroffenen und Behandelnden wie z.B. Psychotherapeut*innen als neuen methodischen Ansatz eingestuft, dessen „Wirksamkeit und Qualität“ noch durch den Bundesausschuss zu prüfen sei.
Dazu die klagende Person Nobicht:
    
„Die Entscheidung […] finde ich persönlich schrecklich. Ja, es ist positiv, dass das BSG bestätigt, dass die medizinischen Ansprüche von binären und nicht-binären Personen nicht zu unterscheiden sind. Aber das spiegelt lediglich die laufende Entwicklung in vielen anderen Bereichen und auch in der Gesetzgebung wieder.“
„Der Verweis auf den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) zur Prüfung der Wirksamkeit der Behandlungen, die in den letzten 40 Jahre bei binären trans* Personen von der Gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt wurden, löst in mir und sicherlich auch vielen anderen Betroffenen starke Verunsicherung aus. Eine Entscheidung durch den GBA wird gewiss mehrere Jahre auf sich warten lassen. 
In dieser Zeit wird ganz einfach gesagt mit Menschenleben gespielt, weil in der Zwischenzeit trans* Personen medizinisch erforderliche Behandlungen verwehrt werden. Hier muss unbedingt von dem*der Gesetzgeber*in endlich eine Lösung in Form von einer gesetzlichen Verankerung von trans*-spezifischen Behandlungen her,“ erklärt Nobicht.
Das BSG hat in der mündlichen Urteilsbegründung eingeräumt, dass das Urteil in der Konsequenz bedeuten würde, dass auch die Behandlung binärer Transmänner und -frauen nach aktuellem Stand nicht gezahlt werden müssten. Das Gericht hat jedoch in aller Schärfe zum Ausdruck gebracht, dass es von den Krankenkassen erwarte, begonnene Behandlungen aus Vertrauensschutzgründen weiter zu bezahlen. Welche Leitlinien das BSG für diese Zwischenzeit bis zu einer Entscheidung durch den Ausschuss oder einer gesetzlichen Regelung mitgeben wird, muss im Detail dem schriftlichen Urteil entnommen werden.
Das höchste Sozialgericht hat mit der Enscheidung eine Situation geschaffen, in der Krankenversicherungen vorübergehend die Kostenübernahme für neu beantragte medizinisch erforderliche Behandlungen von trans* Personen verweigern könnten. Und das obwohl diese Behandlungen seit vielen Jahren allgemein anerkannte medizinische Praxis sind. Das kann nicht sein. Denn die Behandlungen sind erforderlich, um einen erheblichen psychischen Leidensdruck zu lindern.
Die Anwältin Friederike Boll sagte dazu: „Die Forderung nicht-binärer Personen auf Gleichberechtigung dazu zu nutzen, jetzt auch binären trans* Personen den Zugang zu Gesundheitsversorgung zu erschweren, ist ein enormer Rückschritt in Sachen Menschenrechte.“
Und Nobicht schildert: „Ich empfinde die Urteilsbegründung vom BSG als angstbehaftete Reaktion auf den Ausbau von Selbstbestimmungsrechten von trans* Personen,“ 
„Die Richter*innen können offensichtlich mit der zielorientierten Behandlungsweise auf Augenhöhe zwischen trans* Patient*innen und Behandelnden, die in den aktuellen Behandlungsempfehlungen als medizinischer Standard gesetzt sind, nicht umgehen. Das fühlt sich für mich sehr paternalistisch und pathologisierend an, und ist ein deutlicher Rückschritt, was die Rechte von trans* Personen angeht.“
Es bleibt abzuwarten wie die Krankenkassen sich in dieser Situation verhalten werden. Unklar ist bisher, wie und von wem die Prüfung im GBA angestoßen wird und wie lange das dauern wird.
Die Fachanwältin für Sozialrecht Katrin Niedenthal resümierte: „Für das weitere Vorgehen in diesem konkreten Fall muss die schriftliche Urteilsbegründung des BSG abgewartet werden. Je nachdem muss dann über eine Verfassungsbeschwerde nachgedacht werden.“
Wir wollen nochmals unterstreichen: Die durch das Urteil entstandene Situation ist unhaltbar. 
Und auch wir fordern heute: Die im GBA vertretenen Spitzenverbände müssen ihrer Verantwortung Rechnung tragen und schnellstmöglich einen Klärungsprozess in die Wege leiten. Dabei ist die Bestätigung partizipativer Entscheidungsfindung über die notwendigen Behandlungen die einzige akzeptabele Lösung. Denn trans* Menschen dürfen keine „objektiven Maßstäbe“ als Behadlungsziel auferlegt werden. Die Entscheidung, welche Maßnahmen ergriffen werden, muss – mit fachkundiger Unterstützung und Beratung – letztendlich bei den Betroffenen leigen.
Im Koalitionsvertrag hat sich die Bundesregierung die Regelung der Kostenübernahme ins Arbeitsprogramm geschrieben – Worten müssen hier mit höchster Beschleunigung Taten folgen.

English Version

The following text mainly consists of a press release concerning the court decision of the Bundessozialgericht from 10/19th/2023 about the reimbursement of mastectomies for nonbinary persons. The press release was written by the person filing the lawsuit, by the person’s lawyers and the TIN-Rechtshilfe (judicial assistance for Trans, Inter, Nonbinary persons).
We decided to draft a contribution on the basis of this press release to give the topic a space on our demonstration. To draw attention onto the precary trans* specific health care that definitly needs to be improved, for trans* and/or nonbinary people. And to make aware to which extent health insurances add their part to peoples’ suffering from dysphoria.
We don’t want to delude ourselves or each other: also before that court decision it was far from self-evident or sure for trans* and/or nonbinary people to be financially supported by compulsory health insurances for operations or other measures that relieve dysphoria. Especially nonbinary persons often find themselves in the forced situation to impersonate as binary trans* to at least find access to doctors who conduct the operations that they wish for/need. And then still the question remains if the immense costs for those operations will be taken over by the health insurances.
It’s obvious to us: transition and sex reassignment surgery are no luxury but an existential basis for the mental health of many trans* and/or nonbinary people.
So, what is it all about this court decision of octobre?
On Octrobre 19th 2023, the Bundessozialgericht in Kassel judged the refusal of reimbursement of a sex reassignment surgery for a nonbinary person by the compulsory health insurance. The court decided that the health insurance was at present not obligated to take over the costs for sex reassignment surgery for nonbinary persons (B 1 KR 16/22). Robin Nobicht, together with the lawyers Katrin Niedenthal and Friederike Boll, had filed a suit against the Techniker Krankenkasse. Nobicht is nonbinary, thus identifies neither as a woman nor as a man. For the Krankenkasse this was the cause to deny the reimbursement for the sex reassignment mastectomy – the amputation of the breast by surgery. Thus Nobicht had to bear the high expenses autonomously.
At first instance 2021 (S 4 KR 3011/20), the Sozialgericht Mannheim had ackowledged Nobicht’s right in the case and – as well as other German social courts in cases of nonbinary health insured people – judged the health insurance to pay the expenses. 
Against this the health insurance (Techniker Krankenkasse) filed an appeal, and in second instance 2022 (L 5 KR 1811/21) the Landessozialgericht Baden-Württemberg decided in favour of the insurance.
In fact, the Bundessozialgericht – shortly BSG – found the reasons for denial, given by the Landessozialgericht Baden-Württemberg, to be inaccurate. Furthermore in the orally given reasons for the judgement it was admitted that nonbinary persons have the same right for treatment as binary trans* persons. But still – the BSG denied Nobicht’s specific claim because the Gemeinsame Bundesausschuss hadn’t finally clarified the indications of treatment for gender dysphoria.
So apparently, the BSG doesn’t concretely refer to specific surgery methods but to diagnose and indication. In the orally given reasons of the judgement the court classified the “participative” – means shared – decision-making between concerned person and treating person (as e.g. psychotherapists) as a new methodological approach, whose „effectiveness and quality“ would need to be evaluated by the Gemeinsamer Bundesausschuss.
At this point we want to give the account how the suit filing person Nobicht spoke out on all that happened:
“I personally find the decision of the BSG terrible. Yes, it is positive that the BSG affirms that the medical rights of binary and nonbinary people are not to be differentiated. But this only reflects the current development in many other fields and also in legislation.”
“The reference on the Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) for examination of the efficacy/effectiveness of the treatments that have been payed for binary trans* persons by compulsory health insurance during the past 40 years causes a lot of insecurity in me as well as, for sure, in many other concerned persons. A decision of the GBA will surely be waited for for another couple of years. During this period of time there will, simply said, be diced with the lives (and deaths) of humans, because it the meantime medically necessary treatments are denied to trans* persons. Here we absolutely need a solution given by the legislative authorities, in form of a legal embeddedness of trans* specific treatment”, clarifies Nobicht.
In the orally given reasons the BSG admitted that amongst the judgement’s consequences is that also the treatment for binary trans* men and trans* women is not to be necessarily payed for by insurances. But the law expressed with sharp emphasis that they expected health insurances to continue already begun treatments, for reasons of trust. Which guidelines the GBA provides in the meantime – until the decision of the GBA or a legal arragement – is to be taken in detail out of the written judgement.
With its decision, the highest social court in Germany created a situation in which health insurances are temporarilly legitimized to deny the reimbursement of medically necessary treatments newely applied for by trans* persons. And this even though these treatments are generally acknowledged in medical practice for years. Because these treatments are inevitable to relieve massive psychological strain.
In this regard, the lawyer Friederike Boll said: “To misuse nonbinary persons’ claims for equality to now also harden binary trans* persons’ access to medical care, is an enormous regression on the level of human rights.”
And Nobicht states: “I consider the reasons given by the BSG a fear-driven reaction towards the expansion of self-determination of trans* people.”
“Appearently, judges can’t handle goal-oriented treatment at eye level between treatened and treating persons – which is set in the current recommandations of treatment as a medical standard. This feels very paternalistic and pathologising to me, and is an obvious backlash regarding the rights of trans* persons.”
It is to be waited for the health insurances’ handling of the situation. At this point it is not clear at all, how and by whom the examination in the GBA will be initiated and how long this will take.
The social lawyer Katrin Niedenthal resumed: “For the following procedure in this concrete case we need to wait for the written reasons for the judgement by the BSG. Depending on this there will have to be thought of a constitutional complaint.”
We, here today, want to emphasize: The situation created by the judgement is insupportable.
And again, we demand today: The head organization represented in the GBA need to face their responsibility and initiate a clarification process as soon as possible. The only acceptable resolution is the confirmation of participatory decision-making process for necessary treatment. This is, because „objective benachmarks“ cannot be imposed on trans* people as goals of treatment. The decision which steps are taken needs to be with the affected people – who should have access to competent support and counselling. In the coalition agreement the federal government put the legal arrangement for reimbursement on their agenda – those words need to be followed by action immediately.