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Ich will, dass wir erinnern und uns nicht mehr erinnern müssen! Redebeitrag am Westbahnhof am Trans* Day of Remembrance 2022

CN: Mord, Gewalt, Trans*feindlichkeit, Queerfeindlichkeit, Suizid, Misgendern

 

Wenn Du Suizidgedanken hast, sprich bitte mit jemandem darüber!

Du kannst dich rund um die Uhr an die Telefonseelsorge wenden (08 00/1 11 01 11 oder 08 00/1 11 02 22) oder www.telefonseelsorge.de besuchen. Dort gibt es auch die Möglichkeit, mit Seel­sor­ge­r*in­nen zu chatten.

 

Im Folgenden dokumentieren wir den Redebeitrag vom Westbahnhof bei der Demo am 20.11. Davor hörten wir Gedichte von Mirza, die von ihren Genossinnen auf transgrrrls eingesprochen worden waren. Der mit Anführungszeichen markierte Beginn des Redebeitrags ist eine Übersetzung des von ihnen formulierten Gedenkens an Mirza Ellen Deneuve.

 

„Am 28. März 2022 nahm sich Mirza-Hélène Deneuve das Leben. Viele Gedenkposts sind auf sozialen Medien geteilt worden. Aber es fühlte sich immer noch wichtig an, dass wir aktuellen oder ehemaligen Mitglieder von transgrrrls, ihr einen widmen.

Mirza hat nämlich den Blog transgrrrls im Sommer 2018 gegründet. Sie bemerkte, dass es nur wenige französische Ressourcen zu politischen Herausforderungen im Zusammenhang mit Trans*sein für trans* Frauen gab. Es war ihr ein großes Anliegen, diese Ressourcen zu schaffen, indem sie entweder bestehende Artikel übersetzte oder ihre eigenen schrieb. In den folgenden 3 Jahren arbeitete sie unermüdlich und verfasste die Hälfte der Artikel des Blogs unter ihren verschiedenen Pseudonymen. Als Hauptverfasserin und -erschafferin der Gruppe nahm sie an vielen Demonstrationen teil und war bei jeder Veranstaltung, zu der wir eingeladen wurden, mit einer Broschüre vertreten. Mirza ist transgrrls. Jetzt, da sie für immer von uns gegangen ist, werden wir die Gruppe nicht mehr fortführen. Aber es geht um viel mehr als um diesen Blog. Es geht um ihre Worte, die Ideen, die radikale Energie, die weiterhin die transgrrls, die materialistischen und die queeren Milieus beeinflussen. Ihre Werke über trans Menschen werden immer noch lebhaft geteilt, sowohl in den Kaderschmieden als auch in den Kliniken für geplante Elternschaft und in den queeren Zentren.

Mirza hinterlässt ein großes Vermächtnis, und sie wird schmerzlich vermisst.“

 

Allein dieses Jahr wissen wir von fast 400 getöteten trans* Menschen. Mirza war eine davon.

Sie wurde wie so viele unserer Geschwister in den Suizid getrieben. Wir gedenken ihr und unseren ermordeten Geschwistern. Auch wenn wir alle Gewalt erleben, trifft es diejenigen, die arm oder von Rassismus betroffen sind am schlimmsten.

Die meisten der getöteten trans* Menschen sind schwarz oder People of Color und trans* feminin. Die meiste Gewalt und Übergriffe erleben trans* masc und Butch Menschen. Trans* Personen, die flüchten, wird Ihr Geschlecht zugleich aberkannt und als Ausrede genannt, Ihnen Asyl zu verweigern: Heterosexuelle Frauen bräuchten ja nicht zu flüchten. Im nächsten Moment werden sie wieder als Mann misgendert.

Eben wurde von Ella gesprochen: Polizei, Rettungsdienste und Nazis lachten über Bilder aus der Notaufnahme. Der Gedenkort von Ella wurde monatelang immer wieder geschändet.

 

In Deutschland werden im internationalen Vergleich wenig queere Menschen ermordet. Die aus Medien bekannte Zahl liegt bei 3. Wir alle wissen, dass es mehr sind.

Und dass, obwohl eine ganze Generation an queeren Menschen aufgrund der queerfeindlichen Politik der letzten 50 Jahren dieses Jahr nicht erleben kann. Und dass, obwohl es so viele trans* Menschen gibt, die uns unbekannt sind.

Jugendliche und junge Erwachsene, deren Umfeld nie von ihrem Kampf erfahren hat.

Menschen, die schon in gefestigten Umständen leben und Angst haben, sich ihrer Familie zu offenbaren. Die sich aus Angst vor finanziellen Konsequenzen nicht trauen.

Die amerikanische Anwältin Lyra, die mit 35 angefangen hat, als ihr Selbst zu leben, berichtet von dutzenden Mails älterer Kolleg*innen, die alle keinen Weg sehen, ihrem bisherigen Leben zu entkommen und sich der Welt als trans* zu zeigen.

All dieser Menschen gedenken wir.

Denn was mit ihnen passiert ist mein Albtraum: Nicht einmal nach dem Tod seinen eigenen Namen zu führen, bis zum Ende und danach nicht mit dem eigenen Selbst der Welt begegnet zu sein.

Ich versuche immer wieder bei meinen trans* Geschwistern die Kontaktdaten der Angehörigen zu bekommen. Damit wenigstens eine Person auf einer möglichen Beerdigung weiß, wer sie wirklich sind.

 

Und ich will das alles nicht mehr. Ich will nicht, dass die einzigen öffentlichen Tage von trans* Menschen sind: ‚Hey wir sind hier‘ und ‚Hey wir werden immer noch ermordet‘.

Ich will, dass wir nicht ermordet werden. Dass wir Suizid nicht als einzigen Ausweg sehen. Dass wir uns in jeglichen Lebensumständen outen können. Dass wir uns nicht outen müssen. Weil es selbstverständlich sein sollte, dass Geschlecht nicht zugeschrieben wird. Weil es nicht finanzielle Not bedeutet. Weil es keine Ablehnung mit sich zieht.

Ich will, dass wir uns unsere Rechte erkämpfen, dass wir nicht zum Vorzeigebild im Pridemonat und vor Wahlen genutzt werden, dass wir und unsere Leben Teil linker radikaler Bestreben sind.

Ich will, dass wir erinnern und uns nicht mehr erinnern müssen.